40. Mein imaginärer Bahnhof

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02. Juli

Lesezeit: 20 Minuten

Zwischen zu Tode betrübt und himmelhoch jauchzend liegen bei mir zur Zeit nur wenige Sekunden. Und weil ich gerade überglücklich bin, mache ich mir schon wieder Sorgen, ob das wohl so bleibt und ob das bis heute Abend noch anhält. Es macht mich sogar ein wenig nervös. Denn vor fünf Wochen, als die Musik-Kreativ-Tage zu Ende waren, bin ich auch mit diesem Gefühl tiefster innerer Zufriedenheit nach Hause gefahren. Ich habe geglaubt, dass dieser Zustand mich wochen-, wenn nicht gar monatelang auf einer emotionalen Glückswelle trägt, die so hoch über allen zerstörerischen Gedanken reitet, dass diese mich nicht erreichen würden.

So bin ich am nächsten Morgen, nach einem ausgiebigen Frühstück, völlig unbeschwert den Berg runter in den Altort gelaufen und habe mir am Mainufer, nahe der Brücke die nach Margetshöchheim führt, einen schattigen Platz am Kneipp-Becken gesucht. Zum Lesen hatte ich den zweiten Wallander-Roman „Die Hunde von Riga“ von Henning Mankel dabei. Nach jedem Kapitel schaute ich auf, erzählte mir in Gedanken was ich gelesen hatte und war überglücklich, dass ich wieder in der Lage war, das gelesene zu behalten.

Es war mir eine viel zu lange Zeit nicht aufgefallen, dass ich Bücher gekauft und gelesen habe, ohne mich an deren Inhalt erinnern zu können. Mir wurde wieder bewusst, dass sich meine gesamte Gedankenwelt nur noch um Arbeit, neue Projekte, alte Projekte, Leistungsdruck, dem nicht fertig werden, Schlafstörung und die permanente Angst meinen hohen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden zu können, drehte.

Und plötzlich waren die heilsamen Gedanken und Gefühle die ich von den Musik-Kreativ-Tagen mit nach Hause gebracht hatte weg. Ich fing an zu grübeln. Und aus dem Grübeln erwachten konkrete Gedanken. Und aus den Gedanken erwachte Unsicherheit und Angst.

Ich lief nach Hause und wollte die Songidee auf meiner Gitarre aufgreifen, die ich am Tag zuvor komponiert hatte, um diese negativen Gedanken die meinen gesamten Körper mit Unruhe und Nervosität fluteten zu vertreiben. Aber diese innere Panik ließ sich nicht abschütteln. Ich saß auf dem Sofa und meine Wohnung verwandelte sich in den Wartesaal eines imaginären Bahnhofs, der mich gefangen hielt und nicht mehr freilassen wollte.

Ich sah in Gedanken verschiedene Züge einfahren. Ich kannte ihr Ziel, wusste aber nicht wo ich zusteigen sollte. Und immer die Frage: möchte ich noch irgendwo hin mitfahren? Ich saß fest – ganze fünf Wochen lang.

Der erste Zug der in meinen Bahnhof einfuhr war ein Bummelzug. Er hatte nur zwei Wagons und auf der Lokomotive stand in großen Buchstaben MUSIC-TRAIN. Ich lief zum ersten Wagon, wollte die Türe öffnen und sofort einsteigen, entschied mich aber erst einmal von außen, durch die Fenster, in die Wagons zu blicken.

Im ersten Abteil des ersten Wagons saßen Martinello und Martin und spielten meinen Song Der Sonne entgegen auf ihren Instrumenten. Auf der Tür stand „Reserviert für Amely Day“.

Dieser Zug hing fest. Im Online-Portal vom Musikhaus Thomann hatte sich auf meine Anzeige niemand gemeldet und in der Facebook-Gruppe „Musiker In-und-Um Würzburg“ kam nur eine Rückmeldung von einem Cajon-Spieler der nicht wusste ob unser Projekt das richtige für ihn ist.

Es gab keine neuen Songs und ohne rhythmische Unterstützung machten auch weitere Proben-Termine keinen großen Sinn. Die beiden Termine die wir zum gemeinsamen Musizieren vereinbart hatten wurden kurzfristig wieder abgesagt. Das Aus für Amely Day? Nicht wirklich. Ich habe in den letzten Wochen wieder vier neue Songideen aufgenommen und vor ein paar Tagen noch einmal eine Anzeige auf dem Online-Portal vom Musikhaus Thomann geschalten.

Im nächsten Abteil saß Ingo. An der Türe hing das Schild „Booked for Recording“. Natürlich möchte ich meine Songs auf einer CD gepresst in den Händen halten. Und da wir alle nicht das Geld für ein teures Studio haben scheint „Ohrbrot Recording“ die richtige Adresse zu sein.

Das nächste Abteil war leer. Auf dem Schild an der Tür war zu lesen „Band-Marketing“ und auf dem Boden lagen Zettel:
Homepage, Facebook-Account, YouTube Video, Bandmappe, Band-Booking, Digitaler Musikvertrieb, Crowdfunding, Auftrittsmöglichkeiten

Tagelang saß ich vor meinem Rechner und habe alles was ich zu diesen Stichpunkten gefunden habe heruntergeladen und in entsprechenden Dateien abgelegt. Das theoretische Wissen ist jetzt zumindest ein wenig vorhanden. Wie es in die Praxis umzusetzen ist, so ganz alleine ohne fremde Hilfe, kann ich mir noch nicht wirklich vorstellen.

Resignation verspüre ich jedenfalls keine. Ich sehe alles mit einer großen Portion Zweckoptimismus und glaube fest an Amely Day. Und weil ich mit diesem Zug weiterfahren möchte und davon träume, dass aus diesem Bummelzug irgendwann einmal ein Schnellzug wird, habe ich auf einer kleinen Shopping-Tour im Musikhaus Thomann mein Equipment aufgestockt und mir erste Gedanken über mein Bühnenoutfit gemacht.

Im zweiten Wagon saßen die Bandmitglieder von Pearlgarden. Ich wollte nicht einsteigen und auch nicht mehr mitfahren. Die Proben machen mir keinen Spaß mehr und ich fühle mich in der Band nicht mehr wohl. Ich muss diesen Wagon abkoppeln. Spätestens nach den zwei Auftritten, die wir in den nächsten Wochen haben.

Zwei Gleise weiter stand der BUSINESS-TRAIN. Ein Schnellzug der entgleist ist. Mit vollem Tempo gegen die Wand. Reparabel? Es sind beträchtliche Schäden zu erkennen und ein weiterfahren im bisherigen Tempo wird wohl nicht mehr möglich sein. Es ist auch fraglich, ob er noch die alte Strecke fahren kann oder auf einer anderen, etwas ruhigeren Strecke eingesetzt werden muss.

Ich warf einen Blick ins Innere. Im ersten Abteil saß Friedl mein Reha-Kumpel den ich vor Jahren bei meiner Bandscheiben-Reha kennengelernt habe mit einem großen STOP-Schild in der Hand und sah mich vorwurfsvoll an.

Der Klinikaufenthalt war damals schon das Ergebnis totaler beruflicher Überarbeitung. Mein Leben gehörte meinem Job und nach Feierabend hatte ich keine Energie mehr für Sport oder eine andere Art von Freizeitgestaltung. Die Unzufriedenheit aus dem nie fertig werden, nie genügend Zeit haben die Aufgaben in entsprechender Qualität abzuliefern, die fehlende Möglichkeit der beruflichen Weiterentwicklung und Weiterqualifizierung haben damals schon zu Fressattacken und lethargischem Rückzug geführt.

Irgendwann kamen die Schmerzen im Rücken die, als sie anfingen ins rechte Bein abzustrahlen, so stark wurden, dass ich kaum noch laufen konnte weil mein Bein beim auftreten fast taub war. Dank Friedl, mit dem ich während der Reha viel zusätzlichen Sport betrieben habe, konnte ich meine Muskulatur um die Lendenwirbel wieder stabilisieren, so dass ich heute wieder schmerzfrei laufen kann.

Was für mich aber genauso wichtig war: durch den Friedl wurde mir wieder bewusst wie wichtig ein intaktes privates Umfeld ist, in dem man sich Respektvoll und vor allem Vertrauensvoll begegnet. Warum vergisst man so etwas nur so schnell wieder?

Das nächste Abteil war völlig dunkel. Auf einem Zettel an der Schiebetür stand ein Name den ich in den letzten Wochen erfolgreich aus meinen Gedanken verdrängt hatte. Ich drückte die Nase an die Scheibe und die Hände seitlich an den Kopf und je mehr ich mich angestrengte etwas zu erkennen um so häufiger musste ich auf die Toilette zum pissen.

Die Wut über den aufkommenden gedanklichen Amoklauf in meinem Hirn habe ich durch plündern meines Kühlschranks zu kompensieren versucht. Die Übelkeit hielt mich wach und die Angst vor dem Rattern in meinem Ohr hielt mich in meinem imaginären Wartesaal gefangen.

Trotz bestem Schwimmbad-Wetter saß ich tagelang hinter heruntergelassenen Jalousien. Trotz festen Terminen habe ich den Reha-Sport ausgelassen. Trotz aufkommender Rückenschmerzen bin ich nicht mit meinen Nordic Walking Stöcken laufen gewesen. Und nur weil ich immer wieder vor diesem verdammten dunklen Abteil stand, das so perspektivlos wirkte.

Vor ein paar Tagen ging ich zum ersten Mal weiter bis zum letzten Abteil im BUSINESS-TRAIN. Kein Reserviert-Schild. Nur ein Zettel auf dem Boden: FUTURE IS NOW. Ich betrat das Abteil, setzte mich und starrte auf den Zettel.

Seit ich mich beruflich „ausgeklinkt“ habe, bin ich wieder ruhiger, konzentrierter und aufnahmefähiger für viele Dinge in meinem Leben geworden. Und dann wiederum bedarf es nur den Bruchteil eines falschen Gedankens und in meinem Kopf startet dieser Höllentrip, der bereits bei ganz einfachen Aufgaben loslegt und eine imaginäre Stimme mir zuflüstert: du wirst nicht fertig, du schaffst es nicht – und das beginnt schon bei ganz einfachen Dingen wie Hausordnung machen – Treppe kehren und wischen und sonst nichts. Ich weiß genau, dass ich das machen kann wann ich will und dafür solange brauchen darf wie ich will. Dennoch bin ich bei der Ausführung total hektisch und weiss nicht wie ich diesen imaginären Termindruck in meinem Kopf abstellen kann. FUTURE IS NOW – was für eine beschissene Botschaft.

Fünf Wochen meines Lebens die ich im Wartesaal meines imaginären Bahnhofs verbrachte und gedanklich zwischen den Gleisen umher schlich. Fünf Wochen in denen ich es lange Zeit vermieden habe, rüber ans letzte Gleis zu gehen. Dort stand der WORK-LIFE-BALANCE-TRAIN. Die Signale für die Abfahrt waren deutlich zu hören, doch erst nach ein paar Wochen bin ich ein erstes Mal zugestiegen:

15. Juni
Zu den musikalischen Highlights in Würzburg zählt für mich das Umsonst & Draußen Festival. Ich liebe dieses Musikfestival. Der Spielplan für die vier Bühnen ist so gestaltet, dass es keine terminlichen Überschneidungen mit genregleichen Bands gibt und es werden alle musikalischen Vorlieben abseits von Radio- und Volksmusik bedient. Das Festival ist, wie der Name schon sagt Umsonst. Daher investiere ich das gesparte Eintrittsgeld in Bier und kulinarische Leckereien aus aller Herren Länder.

Schon Tage vorher hatte ich das Programm auf der U&D-Hompepage aufgerufen und mir zu jedem Act der mich von der Bandbiographie interessierte ein Video auf YouTube angesehen und mir so mein persönliches Programm für die vier Tage zusammengestellt.

Mein Schwerpunkt lag auf Bands aus dem Bereich Folk, Pop und Blues – das was auch die Musik von Amely Day ausmacht. Ich wollte sehen und lernen wie man ein Publikum in den Bann zieht, was zwischen den einzelnen Songs passiert, wie die Interaktion zwischen Künstler und Publikum läuft und wie die Bühnenpräsenz der einzelnen Musiker ist.

Und da hatte jede Band eine andere, und vor allem eigene Art sich zu präsentieren. Einige Frontleute haben zwischen den Songs ein paar Sätze gesprochen, mal souverän, mal unsicher und schüchtern. Einige Acts haben einfach ihre Songs runtergespielt und sich mit den Worten Vielen Dank fürs kommen verabschiedet. Manche haben ihre Zuhörer zum mitmachen animiert und wurden dank eines begeisterungsfähigen Publikums dabei auch immer unterstützt. Aber eines hatten alle Bands und Künstler die mir positiv in Erinnerung blieben gemein: es war diese spürbare Freude an ihrer Musik die sie mit ihren Zuhörern teilen wollten und die ich ebenfalls empfinden durfte.

Besonders beeindruckt war ich von der kanadischen Folksängerin Amanda Rheaume. Ihre Musik hatte für meinen Geschmack zwar ein wenig zu viel Country-Einflüsse, aber ihre Bühnenpräsenz war so hypnotisch dass ich ohne Widerspruch ihren Anweisungen von der Bühne folge leistete.
„You like to sing!“
Das war keine Frage. Das war eine Aufforderung und ich antwortete wie all die anderen Musik-Lemminge:
„Yeaaaah“
Und schon bekamen wir unsere Instruktionen. Und wir sangen und gaben unser Bestes als würden Schulnoten für unsere Leistung verteilt werden.
„Come on. Let me see your hands!“
Und schwups, waren alle Hände oben. Natürlich auch meine. Und ich klatschte rhythmisch zu einem Country-Folk-Pop-Song der mir nicht wirklich gefiel – die Frau hatte es einfach drauf.

Zurück in meinem Wartesaal war wieder diese Leere, die ich in den letzten Wochen am intensivsten immer am Morgen empfunden habe, wenn es mir in der Nacht zuvor nicht gelang mich beim Einschlafen auf Dinge zu konzentrieren, die ein angenehmes Gefühl auslösen und mich für längere Phasen immer wieder einschlafen lassen.

In schnellen Abläufen sah ich Bilder und Sequenzen beruflicher Auseinandersetzungen die ich führen musste um zu verdeutlichen, dass ich die geforderten Leistungen nicht mehr in entsprechender Qualität liefern kann. Aber keiner wollte mir zuhören. Keiner wollte sehen, dass die gewünschten Ergebnisse nur zustande kamen weil ich mittlerweile viele Wochenenden dafür opferte und auch an den Abenden länger blieb. Und als die geforderten Ergebnisse nicht mehr abgeliefert werden konnten und die Fehlerquote stieg hat man sich von mir abgewandt – nur um den eigenen Arsch zu retten. Ich bekomme das einfach nicht mehr raus aus meinem Kopf.

17. Juni
Vor zwei Wochen lief ein Sonderzug in meinen imaginären Bahnhof ein. Zugführer Peter und seine stolze Dampflok JUST MARRIED. Ich hatte nie zuvor einen glücklicheren und entspannteren Peter gesehen. Und das obwohl seine zukünftige Frau Nicole an diesem Tag so einen Ausdruck in den Augen hatte, der dir sagt: Wenn an diesem von mir perfekt geplanten Tag auch nur irgend etwas schiefgeht oder irgend jemand nicht die von mir zugedachte Rolle spielt, dann schrei ich, heul ich und klapp zusammen. Genau in dieser Reihenfolge.

Und der Peter hatte gestrahlt wie ein Honigkuchen-Pferd als er seine Braut im Sissi-Style mit einer Schar engelsgleicher Brautjungfern zum Altar führte. Und der Peter hatte immer noch gestrahlt als er am Abend gemeinsam mit Nicole und ihren Garde-Mädels eine einstudierte und durchchoreographierte Tanzperformance a la „Saturday Night Fever“ aufs Parkett legte. Ich war so schwer beeindruckt, dass ich mich gefragt habe, was der Peter eingeworfen hat. Aber wahrscheinlich war er einfach nur glücklich.

Heute morgen bekam ich eine Nachricht aufs iPhone mit der Einladung der WhatsApp-Gruppe „Wacken 2017“ beizutreten. Ich nahm mein Wacken-Ticket vom Schreibtisch, schaute aufs Datum, rechnete kurz und plötzlich wurde mir klar dass es in vier Wochen bereits losgeht! Der ganze Vormittag war wie eine Fahrt mit dem HAPPY-TRAIN.

Das Ticket bekam ich letztes Jahr Anfang Dezember zugeschickt. Und jetzt geht es in die Vorplanung und die Tage bis Wacken sind zählbar. Auf diesen Zug habe ich gewartet:
W A C K E N!

Es ist Bewegung auf meinem Bahnhof entstanden. Ich habe wieder Lust auf Veränderung bekommen. Schluß mit dem rumhängen im imaginären Wartesaal und Schluß mit dem herumschleichen an den Gleisen und an Zügen, die nicht fahren weil sie kein Ziel mehr haben.

Um meine Endstation in 15 Jahren erreichen zu können sollte ich im BUSINESS-TRAIN nach einem Wagon mit dem Abteil „Weiterqualifizierung“ suchen und womöglich muss ich einen kompletten Wagon abhängen. Aber nur so kommt dieser Zug wieder in Bewegung.

Und der MUSIK-EXPRESS braucht weitere motivierte Passagiere, damit aus der Dampflock ein Schnellzug wird. Wichtig ist nur, dass die Züge wieder Ziele bekommen, damit sie sich bewegen. So wie der WORK-LIFE-BALANCE-TRAIN der mich heute Abend zum „Weinfest am Stein“ bringt.

Viel zu lange hatte ich meine eigenen Bedürfnisse aus den Augen verloren. Und eines meiner wichtigsten Bedürfnisse ist es, wieder einmal Spaß zu haben. Und das werde ich heute Abend. Gemeinsam mit Freunden, guter Musik, herrlichem Wetter und einem leckeren Glas Wein. Doch es ist mir bewusst: zwischen zu Tode betrübt und himmelhoch jauchzend liegen bei mir zur Zeit nur wenige Sekunden.