38. Rum – Darum – Rumda

roehrenglocken

26. Mai
Musik-Kreativ-Tage (Tag 3)

Lesezeit: 20 Minuten

Was für ein schönes, altvertrautes und doch neues Gefühl. Aufwachen, aufstehen wollen, sich auf den Tag freuen, glücklich sein. In meinem Kopf läuft ein Medley aus den Liedern die gestern geprobt wurden. Mit „Ein Stein weint nicht“ schleiche ich ins Bad. Zähne putzen mit „Unterwags“. Ich dusche mit „Hinter mein Haisla“ und ziehe mich mit der „Flaschenpost“ im Ohr an. Vom Zimmer bis in den Speisesaal höre ich „Warum?“ und begrüße alle bereits anwesenden mit dem glücklichsten Guten Morgen! das ich seit vielen Jahren empfunden habe.

Der Weg in den Kammermusiksaal fühlt sich bereits nach einem Tag so vertraut an, als würde hier an der Musik Akademie in Hammelburg mein gewohntes Leben stattfinden.

Nach und nach trudeln alle Musiker ein und Alex überrascht uns mit der Nachricht dass er uns die gestrigen Aufnahmen über Dropbox zur Verfügung gestellt hat.

Nachdem alle ihre Plätze eingenommen haben, starten wir mit meinen beiden Songs.
„Warum“ sage ich und Peter, der im Zuschauerraum sitzt antwortet mit „Darum“. Wir müssen alle lachen.

Ich beginne die ersten Akkorde zu spielen. Nach dem zweiten Takt kommen Bass und Cajon dazu und ich höre erste Fill-Ins von der E-Gitarre. Mein Körper beginnt rhythmisch zu wippen, während ich die ersten beiden Strophen singe. Danach der Refrain mit Akkordeon und Chorgesang – mein Gott ist das schön. Mein Blick geht rüber zu Stefan der ein Querflöten Soli spielt, das er wohl gestern Abend ausgearbeitet hat und sich jetzt richtig toll anhört.

Zweite Strophe. Ich glaube die Fill-Ins kommen von der Dobro. Dazwischen Blue Notes vom Klavier. Wie genial ist das denn! Zweiter Refrain und das Solo von Rudolf. Auch er hat sich etwas nettes einfallen lassen.

Letzte Strophe. Refrain, etwas Improvisation von allen, letzter Refrain mit Wechselgesang Warum – Darum. Die Lautstärke geht runter. Schlußakkord. Fertig.

Ich schaue zu Sven. „Was hältst du davon wenn wir vor dem letzten Refrain ein rhythmisches Wechselspiel einbauen. Ich schlage einen Akkord mit zwei Downstrokes an und du füllst den Takt rhythmisch auf.“

Ich spiel es kurz an und interpretiere stimmlich den Rhythmus. Sven findet es gut und wir probieren es gleich mal.

„Du hast etwas geschafft, was uns bei den Singvögeln in den letzten 10 Jahren nicht gelungen ist – dass der Sven ein Drumsolo spielt!“ sagt Karan und alle lachen.

Wir spielen den Song noch einmal durch. Ich bin Happy! Nur von Peter kommt der Hinweis „Du bewegst dich zu viel und bist dadurch öfters zu weit von den Mikros weg. Da musst du ein bisschen drauf achten“. Ich bin sehr dankbar für den Hinweis.

Der Song steht und auch „Ein Stein weint nicht“ läuft problemlos durch. Der A Capella-Einstieg ist eine absolute Bereicherung für den Song. Ich hatte zwar bis eben noch Bedenken den richtigen Ton zu treffen, aber scheinbar ist das bei eigenen Stücken anders als bei Cover Songs. Man fühlt sich sicherer. Oder ich bilde mir das nur ein. Oder ich hatte einfach nur Glück. Mal sehen ob es morgen auch so gut läuft.

Franz Josef II möchte sein „Unterwags“ noch einmal durchspielen. Ich mag das Stück, wüsste aber nicht was man zum gestrigen Durchlauf noch verbessern könnte. Franz Josef II spielt die ersten beiden Strophen mit seiner Akustik Gitarre und als Sven in Strophe 3 mit dem Cajon einsetzt spielt Martinello eine wehmütige Melodie auf seiner Blues-Harp dazu. Ich bin total berührt. Die Blues-Harp geht mir unter die Haut.

Nach dieser Strophe setzen die Bläser ein und übernehmen die Melodieführung. Die Zusammensetzung der Instrumente hat sich heute etwas geändert. Zur Trompete und Posaune höre ich heute die Klarinette und ihr Spiel klingt jiddisch. Darunter liegt noch ein Gitarren Solo, gespielt auf einer weiteren Akustik Gitarre und ich bin froh, dass der Rhythmus-Part den ich auf meiner Gitarre spiele so einfach ist. So muss ich mich nicht sonderlich auf mein Spiel konzentrieren und kann die tolle Musik genießen.

Für das Outro hat Sven noch eine gute Idee. Anstatt den Song mit einem Fade-Out zu beenden will er mit dem Heck Stick einen Rhythmus spielen der wie das Ticken einer Uhr klingt. Er spielt das kurz an, wir wiederholen den Song und der Schluß ist fantastisch.

Für Karans „Flaschenpost“ hat Steffen eine Ocean-Drum mitgebracht. In der doppelseitigen Rahmentrommel werden kleine Edelstahlkugeln bewegt, die ein authentisches Meeresrauschen simulieren. Stefan bewegt die Ocean Drum langsam hin und her und ich kann das Meer rauschen hören. Gekauft!

Nach der ersten Strophe streicht Sven über seine Wind-Chimes bevor er mit dem Rhythmus beginnt und Martinello greift spontan inspiriert zur Blues-Harp. In diesem Moment wird nicht einfach nur Musik gemacht, in diesem Moment wird mit Tönen ein Bild gemalt und ich kann es sehen und fühlen. Ich treibe mit meinen Gedanken auf den Wellen der Melodie und höre nach jedem Refrain etwas E-Gitarre und nach der letzten Strophe eine sanfte Klarinette. Was soll ich sagen: wunderschön!

Und wunderschön geht es weiter. „Tag und Nacht“, der zweite Song von Karan ist ein zuckersüßer Popsong den jeder frisch Verliebte für sein erstes Date als Download auf seinem Smartphone haben sollte. Das ist so ein toller Schmusi-Song! Einfach perfekt.

„Ich würde mit euch gerne einmal ein kleine Sprechkantate ausprobieren wollen“ sagt Steffen. „Ich nenne euch ein Thema oder einen Oberbegriff und sobald jemand etwas dazu einfällt ruft er den Begriff laut in den Raum und wiederholt diesen in kurzen Abständen. Jeder Begriff darf nur einmal verwendet werden. Wenn der Oberbegriff „Tiere“ ist und der erste von euch ruft Pferd, kann der nächste zum Beispiel Klapperschlange rufen. Je mehr Begriffe gerufen werden, desto spannender ist dieses Klangwerk. Lasst uns das mal probieren.

Das erste Thema ist „Bekannte Sprüche aus der Politik“. Ich bin sofort angefixt und überlege. Da kommt auch schon der erste Spruch „Ich bin ein Berliner“. Verdammt. „Die Renten sind sicher.“ Stimmt, den kenne ich auch. „Belgien ist eine schöne Stadt.“ Ja, der Donald Trump ist schon ein bemerkenswerter Präsident. Jetzt hab ich’s: „Hol mir mal ´ne Flasche Bier.“ Yeah. Gerhard Schröder, mein Retter! (LOL)

Die Sprechkantate läuft gefühlte fünf Minuten. Dann bricht Steffen ab.
„Für morgen suche ich mir etwas leichteres aus“ sagt er und mir wird gerade eben bewusst, dass wir dieses kleine Auflockerungsspielchen, für das ich es bis eben gehalten habe, morgen live aufführen werden.

Während Stefan seine „Musik für eine Brotzeit“ noch einmal durchprobt ziehe ich mich mit Michael zurück um den Ablauf seines zweiten Instrumentalstücks durchzusprechen, denn für seine Songs gibt es keine Notenblätter.

Wir fahren mit dem Aufzug einen Stock tiefer um es uns auf der Terrasse, bewaffnet mit Gitarre und Hybrid-Sitar, gemütlich zu machen. Während Michael mir die Akkorde zeigt und mir die Songstruktur erklärt, schweift mein Blick über die Terrassenbrüstung. Es fühlt sich hier alles so paradiesisch an. Die Akademie, die sich im Kloster Altstadt auf dem Schloßberg unterhalb der Burg Saaleck befindet, liegt eingebettet in eine traumhaft schöne Natur und ich sitze hier bei strahlendem Sonnenschein und darf Musik machen und kreativ arbeiten.

Ich spiele den ersten Rhythmus Part und als Michael die erste Melodie-Spur mit seiner Sitar darüber legt taucht vor meinem geistigen Auge ein Bild der Rolling Stones auf, das 1971 in Frankreich in der Villa Nellcôte an der Côte d´Azur gemacht wurden als sie ihr Album Exile on Main St. eingespielt haben.

Michael erklärt mir den zweiten Rhythmus-Part und als er die zweite Melodie Spur darüber spielt bin ich wieder an der Côte D´Azur – blauer Himmel, Sonnenschein und um mich herum endlose Natur.

Im Kammermusiksaal ist Stefan mit den Proben für seine „Brotzeit-Musik“ fertig und wirkt sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Langsam trudeln wieder alle Musiker ein um gemeinsam den „Love Song“ vom Michael zu spielen.

Als Orientierungshilfe für alle dient das von mir aufgezeichnete Akkordmuster aus dem die einzelnen Rhythmus-Parts mit den dazugehörigen Akkorden abzulesen sind. Der Song grooved und alle Musiker werden vom Bewegungs-Virus infiziert.

Nach dem Mittagessen geht es weiter mit dem Instrumentalstück im 7/8tel Takt. Der Song startet mit vielen Unterbrechungen. Immer wieder fällt das Zusammenspiel auseinander. Man beschließt eine kleine Pause zu machen. Als es weiter geht, kommt Sven mit einer leerer Bierflasche zurück in den Saal.
„Ich habe da so eine Idee“ sagt er.
Der Song läuft gut an und als Sven beginnt den Rhythmus mit dem Drumstick auf der leeren Bierflasche zu spielen entsteht spontane Begeisterung. Ich finde das so genial – Chapeau Sven!

Jetzt freue ich mich auf Kuno, der auf dem Alphorn gemeinsam mit Julia das von ihr komponierte Lied vom „Rosenbaum“ spielen wird.

„Das Alphorn“ erzählt uns Kuno „ist bezüglich der zu bespielenden Töne auf die Naturtonreihe beschränkt. Sollte sich daher der eine oder andere Ton ein wenig schief bzw. falsch anhören ist er dennoch richtig gespielt.“

Julia beginnt auf der Harfe und als Kuno auf dem Alphorn einsetzt bekomme ich eine Gänsehaut. Das ist schon wieder so schöne Musik und während ich mit den Tränen kämpfe ertönen die von Kuno erwähnten dissonanten Töne und ich muss schmunzeln.

Nach der Kaffeepause gehe ich spazieren. Ich wähle den Kapellenkreuzweg mit seinen 14 Stationshäuschen der auf einer Länge von einem Kilometer, als Rundweg um das Kloster angelegt ist. Einfach ein bisschen bewegen und den Kopf frei bekommen – das tut gut.

Zurück in der Akademie höre ich bereits auf dem Weg nach oben in den Kammermusiksaal Musik, die sich nach Hubert von Goisern anhört. Ich bekomme sofort Lust mitzuspielen, schnappe mir meine Gitarre und frage Franz Josef II nach den Akkorden.

Er nennt mir die 4 Akkorde, die als Turn-Around gespielt werden. Ich steige ein und merke nach der zweiten Schleife, dass es gar kein Stück von Hubert von Goisern ist, sondern „Hinter mein Haisla“. Das kann ich jetzt gar nicht glauben. Das ist der absolute Knaller!

Nachdem das Stück zu Ende gespielt ist, herrscht allgemeine Hochstimmung. Ich glaube rauszuhören, dass Peter und Sven auf die Idee gekommen sind, das Lied mit diesem Calypso-Rhythmus zu spielen. Hier passiert so viel. Ich finde das unglaublich. Wir spielen das Lied noch zweimal durch. Nicht weil es vom Zusammenspiel notwendig wäre, einfach nur weil es allen total viel Spaß macht.

Vor dem Abendessen wird noch „Morgen muss ich fort von dir“ geprobt. Das Lied berührt mich ungemein. Warum? Ich weis es nicht. Ich weis nur, dass ich mir immer mehr Gedanken darüber mache wie ich das Konzert morgen überstehen soll.

Vielleicht brauche ich Anti-Tränen-Gedanken. Ich denke an die dissonanten Töne beim Alphorn und muss schon wieder schmunzeln. Das könnte funktionieren.

Nach dem Abendessen gibt es eigentlich kein offizielles Programm mehr. Lediglich Julia und Ralph wollen sich noch einmal im Saal treffen um das Stück das Julia für Harfe und Singende Säge geschrieben hat zu spielen.

Ich gehe rüber in den Kammermusiksaal und sehe, dass bereits fast alle Musiker anwesend sind. Es haben sich verschieden Grüppchen gebildet und ich entdecke Martinello zusammen mit Sven bei den Röhrenglocken. Da muss ich hin. Sven hat bereits den Hammer in der Hand mit dem die Röhrenglocken am oberen Rand gespielt werden und versucht sich an dem Song „Tubular Bells“ von Mike Oldfield.

Ich möchte das auch einmal ausprobieren und während ich die Glocken klingen lasse erzählt Julia dem Martinello, dass sie die Röhrenglocken in ihr Stück „Traum“ mit eingearbeitet hat und fragt ihn ob er den Part übernehmen will. Ich sehe ein paar leuchtende Augen und übergebe den Hammer an Martinello, der gleich damit beginnt seine Anschlagtechnik zu optimieren.

Mittlerweile sind alle Musiker eingetroffen. Wir verteilen uns im Saal und Ralph, Julia und Martinello starten mit der Probe für den „Traum“. Julia beginnt, Ralph setzt ein und die Säge jagt mit zuckersüßer Melancholie durch mein Ohr auf dem direktem Weg Richtig ON-Button meines Augenwasser-Spenders.

Alphorn – schiefe Töne – Alphorn, schiefe….
Wasserschleusen öffnen!
Stop – stop – stop! Das geht jetzt nicht!
Wasser marsch!
Neeiiiin – Bügeln – Hemden bügeln – Unterhosen bügeln
Wasser stop – schmunzeln
Bügeln? Wie komme ich jetzt auf Bügeln?
Hilft aber.

„Ich möchte einmal alle Musiker auf die Bühne bitten“ sagt Andrea nachdem wir dem musikalischen Traum gebührend Applaus gespendet haben.

Andrea kann ich nicht wirklich einordnen. Sie hat sich uns am Mittwoch als Sängerin vorgestellt, die bereits seit drei Jahren an den Musik-Kreativ-Tagen teilnimmt.

„Ich habe die letzten Tage auf mich wirken lassen und stichpunktartig aufgeschrieben was ich wahrgenommen habe. Daraus habe ich das Stück „Rumda“ entwickelt. „Rumda“ ist ein Wort das Fränkisch klingt, frei von Assoziation. Es steht in Beziehung zu Geralds Stück „Warum“. Ich möchte euch bitten die Stimmung der Situation völlig frei zu interpretieren. Wie das so ist in der Liebe: ohne doppelten Boden und ohne Garantie. Dazu benötige ich zwei Sprechstimmen und möchte euch bitten, immer wenn ich mich zum Orchester umdrehe, so lange das auf euren Instrumenten zu spielen was ihr gerade zum gesprochenen Text empfindet, bis ich mich wieder wegdrehe.“

OK. Jetzt entsteht Kunst. Ich spüre das und freu mich darauf. Für die Sprechstimmen melden sich Kuno und Julia und dann ist folgendes passiert:

A: Rum – Darum – Rumda.
Schön dass es dich gibt.
K: Sonst lägen wir nicht hier.

Freie Improvisation des Orchesters

A: Spielst du auch ein Instrument?
K: Ja, dich! Da klingt das ganze Universum!
J: Es wird hell. Die Vögel zwitschern schon.
K: Ja. Mach das Licht aus. Bitte.

Freie Improvisation des Orchesters

K: Alles Gut.

Freie Improvisation des Orchesters

K: Komm. Jetzt schlafen wir noch eine Stunde.
J: Mmmmh
K: Komm. Dreh dich noch einmal rum.

Freie Improvisation des Orchesters

A: Rum – Darum – Rumda

Ich bin total geflashed! Das ist kreative Freiheit wie ich sie nur von Künstlern aus dem Fernsehen kenne. Und jetzt bin ich life dabei! Und morgen performen wir vor Publikum. Ich bin… keine Tränen… einfach nur glücklich.
„Das war toll“ sage ich zu Andrea.
„Ja, hat es dir gefallen?“
Sie lächelt mich an und wir unterhalten uns noch eine ganze Weile.

Ich erfahre, dass sie unter anderem als malende Künstlerin tätig ist und versucht mit ihren Bildern den Blick des Betrachters zum Verweilen zu bewegen. So kann er zu seiner eigenen Mitte, zum Ursprung, seinem eigentlichen Selbst finden. Was soll ich sagen: Ich bin fasziniert.

Auf der Bühne stehen gerade Michael mit E-Gitarre, Martinello am Bass, Sven auf dem Cajon und Ralph, der auf seiner Dobro eine Art Nashville-Tennessee Country Gedudel anstimmt, auf das die anderen mit einsteigen. Das scheint alle Anwesenden so richtig zu begeistern.
„Wie heißt das Stück“ fragt Franz Josef II.
„San Antonio Rose“
„Das muss unbedingt noch mit ins Programm“ sagt er und alle stimmen zu. Alle? Nein, ein kleiner Liederschreiber aus der Nähe von Würzburg blickt verwundert in die Runde und ist erstaunt von die Begeisterung für das Country-Gedudel. Und Steffen? Der ist begeistert, weil er das Programm für morgen wieder umschreiben darf.