29. Gegen den Strom (1)

Gerald Plessgott

27. März

Am Freitag kam die Bewilligung meines Reha-Antrages, den ich vor zwei Wochen abgegeben hatte. Ich soll mich in zwei Wochen in der Reha-Klinik melden. Das ging jetzt so schnell, dass ich zuerst dachte jemand hätte die von mir beschriebenen Symptome meiner Erschöpfungsdepression möglicherweise als Gefahr in Verzug interpretiert. Dann sah ich auf dem Kalender, dass der Anreisetag direkt vor dem langen Osterwochenende liegt. Und dann war klar, warum das so schnell ging.

Mir ist das egal. Ich möchte wieder gesund werden. Möchte wieder ein Gespür für die Grenzen meiner persönlichen Belastbarkeit entwickeln und aufhören, immer alles perfekt machen zu wollen. Ich brauche wieder mehr Selbstvertrauen und möchte mein Selbstwertgefühl zurück.

Ich legte die Reha-Bewilligung zur Seite und blieb auf meinem Sofa sitzen. So wie am Bahnhof, wenn man auf seinen Zug wartet. Aber der Zug ist am Freitag nicht mehr gekommen und auch an den beiden darauf folgenden Tagen nicht.

Gerald Plessgott

Verschiedene Formen der Wahrheit

Im Badezimmer blicke ich in ein Gesicht, das in zwei Tagen um zehn Jahre gealtert ist. Die Grautöne im Bart lassen mich alt aussehen und meine Gesamterscheinung hat etwas Charles-Bukowski-haftes. Damit ist ein Punkt erreicht an dem sich mein Kopf wieder einschaltet und mich zwingt etwas dagegen zu unternehmen.

Ich beginne mit meiner Morgenroutine und spüre eine innere Unruhe, so als müsste ich mich beeilen, damit ich mich bei einem wichtigen Termin nicht verspäte. Jede Bewegung wird plötzlich hektisch und ich kann meine Gedanken nicht mehr kontrollieren: muss fertig werden – schaff ich nicht – muss fertig werden – das geht so nicht – muss fertig werden….

Beim Duschen komme ich etwas zur Ruhe. Ich lenke mich mit einem Gedankenspiel über Wahrheit und Lüge ab:

Ich glaube die Lüge als Solche gibt es gar nicht. Sie ist eine Erfindung der Kirche um Strafen aussprechen zu können. Das fanden kindererziehende Eltern so genial, dass sie das Lügen-Konzept übernahmen um ebenfalls Strafen aussprechen zu können. Dabei ist die Lüge eigentlich nur eine andere Form der Wahrheit. Denn die Wahrheit als Solche gibt es natürlich auch nicht.

Es gibt verschiedene Formen der Wahrheit. Die angenehme Wahrheit die man gerne hört und die unangenehme Wahrheit die man manchmal nicht aussprechen mag um anderen nicht zu verletzten. Und dann gibt es noch die Wahrheit bei der etwas Unangenehmes in etwas Angenehmes abgewandelt werden muss, damit der Empfänger dieser speziellen Wahrheit besser damit umgehen kann.

Und dann kam die Kirche und hat diese spezielle Form der Wahrheit einfach Lüge genannt. Damit begann der ganze Schlamassel, unter dem Kinder wie Erwachsene bis heute zu leiden haben…

Jetzt muss ich lachen. So viel geistiger Dünnschiss bereits am frühen morgen. Ich sollte heute an einem neuen Songtext arbeiten.

Gerald Plessgott

Das Video ist legendär!

Nachdem ich ausgiebig gefrühstückt hatte, war ich bei meinem Psychotherapeuten und bin anschließend noch etwas am Main spazieren gegangen. Jetzt sitze ich wieder vor meinem Laptop und höre mir einige meiner Songideen an. Ich möchte den richtigen Song, passend zu meiner Stimmung zu finden. Ich klicke auf ein Video, bei dem ich im Vorschaubild eine Skimütze und seine 3D-Brille trage. Es ist ein musikalischer Geburtstagsgruß an meine Nichte.

„Servus Dirndl. Wie i keard hab hast du heid Geburtstag und wünschst dir von deinem Lieblingsonkel a richtig schöns Geburtstags-Gschtanzl. Oiso no back mers. Huirä hui di ri. Huirä hui do ro. Hui rä hui di ri hui di rä hui di ro. Zum Geburtstag viel Glück …“

Ich kann nicht mehr vor lachen. Das Video ist legendär!

Bei der Videoaufzeichnung vom 01. Dezember erlebe ich die nächste Überraschung. Der Song ist alles andere als witzig, hat aber bereits einen deutschsprachigen Refrain

Wo, wenn nicht hier, wenn nicht jetzt, wenn nicht gestern
wo, wenn nicht hier, wenn nicht jetzt, wenn nicht heut
wo, wenn nicht hier, wenn nicht jetzt, schwimm ich morgen
gegen den Strom, gegen den Strom

Der Refrain ist so abgefahren, da muss ein Text dazu. Und ob der Song jetzt zu meinem Stimmungsbild passt oder nicht ist mir gerade mal völlig egal. Ich hole meine Gitarre aus dem Koffer, stimme sie kurz durch und spiele den Song. Danach gleich noch einmal um mich in die Melodie hinein zu fühlen. Gegen den Strom – das bin ich. Das ist mein Leben.

Denn gegen etwas zu sein, von dem erwartet wird, dass man es tut weil es schon immer so gemacht wurde und damit auch niemand über einen schlecht spricht, war schon immer ein Lieblingsanliegen von mir.

Gerald Plessgott

Meine Abneigung gegen die Modebewegung

Das erinnert mich an meine Rebellion gegen das Modediktat Anfang der 80er Jahre. Ich trug Jeans, die unterhalb der Gesäßtaschen so stark eingerissen waren, dass sie den Blick auf das Darunter freigegeben hatten. Das führte lange Zeit zu Missverständnissen und großem Unverständnis bei Lehrern und Mitschüler. Eine Zeit lang wettete man morgens immer auf die Farbe meiner Unterhose bevor ich das Schulgebäude betrat.

Niemand verstand meine Abneigung gegen die gerade aufkommende Modebewegung der Popper, die mit ihren College-Schuhen, Karottenjeans, Polohemden, Pullundern und Lederkrawatten nach Hugo Boss rochen. Und in dem kleinen Dorf in dem wir damals lebten war ich, quasi im Alleingang, die modische Gegenbewegung mit meinen zerrissenen Klamotten und dem Motto: der Regen wäscht mein Haar und der Wind bläst es wieder trocken.

Das Ende meiner Rebellion besiegelten meine Eltern als sie mich eines Nachts gemeinsam mit meinen Schwestern im Schlaf überwältigten und im Badezimmer in eine mit Wasser gefüllte Wanne tauchten. Gerüchten zu Folge hatte mein Deo bereits seit längerem versagt.

Gerald Plessgott

Am nächsten Morgen waren meine zerrissenen Klamotten in der Mülltonne und ich fand auf dem Stuhl in meinem Zimmer eine Karotten-Jeans, ein weißes Polohemd, eine braune Lederkrawatte und einen blauen Pullunder. Und vor dem Stuhl die blauen College-Schuhe. Der Albtraum war perfekt.

Nachdem ich meine zerrissenen Klamotten zweimal vergeblich aus der Mülltonne gerettet hatte, war meine Rebellion zu Ende. Ich musste kapituliert.

Jahre später waren es dann meine „roten Schuhe“ die ich zu einer zitronengelben Hose mit weißen Polohemd und pinkfarbener Ansteckfliege getragen habe, um auf die modischen Verfehlungen der partysüchtigen Jugend der späten 80er Jahre aufmerksam zu machen. Leider wurde ich mit dieser Aktion völlig missverstanden. Tagelang klingelte immer wieder unser Telefon und irgendwelche Idioten riefen in den Hörer „Du bist doch schwul, oder?“ Damit konnte ich auch diese Rebellion nur noch in gemäßigter Form weiterführen.

Gerald Plessgott

Bringt mich das jetzt textlich weiter?

Ich laufe nackt durch die Straßen,
falle hin und steh wieder auf
verloren im Wald der Worte und Taten
Dilemma für viele, ich gebe nicht auf

WAS FÜR EIN MISST! Und die anderen zwei Strophen erst. Manchmal, da jagt ein so gnadenloser Bullshit durch mein Hirn. Ich muss hier raus….

Ich reiße mir förmlich die Klamotten vom Leib und schlüpfe hastig in meine Jogginghose. Danach ziehe ich den Fleecepulli und die Regenjacke übers T-Shirt und laufe mit den Turnschuhen und Laufstöcken in der Hand die Treppen runter zum Hausausgang.

An den Tennishallen habe ich immer noch das Gefühl ich werde verfolgt oder die Druckwelle der imaginären Bombe, die in meiner Wohnung zu detonieren droht, könnte mich hier erreichen. Was für ein Wahnsinn!

Gerald Plessgott

Ich laufe los und entscheide mich an der Wegkreuzung die Rechts nach Gadheim führt und gerade aus in die große Laufrunde, für Links. Die kleine Laufrunde ist nur 3 Kilometer lang, geht bis zur Hälfte leicht bergab und steigt bis zu den Tennisplätzen wieder kontinuierlich an.

Warum ich so entschieden habe weiß ich nicht. Ich spüre nur, dass ich bei dem Tempo das ich laufe die richtige Entscheidung getroffen habe.

Wieder zu Hause überfällt mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich habe dieses irre Biest in mir bezwungen. Ich habe Durst. Ich habe Hunger. Ich habe Lust darauf, weiter an dem Song zu arbeiten….

(Anfang verpasst?)