9. Warum?

Wo es viel geregnet hat,
da fällt im Winter kein Schnee.
Wo ich mich verbogen hab,
da tut es heute noch weh.
© Amely Day – Warum

12. Januar

Manche Tage beginnen so ganz anders als andere Tage. Während meine halboffenen Augen suchend durch den Raum wandern, stelle ich mir vor wie es wäre wenn ich heute einen Video-Blog für meinen imaginären YouTube-Kanal produzieren würde. Titel des Vlogs: A Day in my Life.

Erste Einstellung
Die Kamera zeigt mich wie ich langsam aufwache und meine aktuellen What´s App Nachrichten checke. Wie von Geisterhand geführt begleitet mich die Kamera ins Badezimmer, zeigt mich beim Rasieren, duschen und Zähneputzen und folgt mir im Anschluß an den Kleiderschrank. Hier spreche ich in die Kamera und erzähle lächelnd dass ich mir für den heutigen Tag etwas bequemes raussuche – Schnitt.

Zweite Einstellung
Barfuß, mit Jeanshose und einem Metallica T-Shirt stehe ich in der Küche und erkläre meinen Followern wie wichtig ein ausgewogenes Frühstück ist. Dazu schlage ich zwei Eier in einer Schüssel auf, hohle Schnittlauch aus dem Gefrierfach und würze mit Jodsalz.

Während die Eier in der Pfanne brutzeln starte ich die Kaffeemaschine, schmiere mir ein Brot mit Halbfettmargarine und lege eine Scheibe Maasdamer Käse darauf. Die Rühreier kommen mit einer aufgeschnittenen Tomate auf einen kleinen Teller. Daneben das Käsebrot. Dann noch ein Glas Orangensaft und mit der Tasse Kaffee ist das Gesamtbild fertig. Letzter Blick in die Kamera – Schnitt.

Dritte Einstellung
Ich habe die Jeanshose gegen eine Jogginghose getauscht und trage trendige Turnschuhe an den Füßen. Ich erzähle in die Kamera, dass ich heute ein paar Pilates Übungen für einen gut trainierten Bauch zeige. Dann setze ich mich auf meine Matte die bereits auf dem Boden liegt beginne mit Atemübungen zur Lockerung der Bauchmuskulatur.

Die Übungen werden mit leichter Rockmusik untermalt. Danach wieder der Blick in die Kamera und ich sage dass ich jetzt bereit bin um ein wenig kreativ zu arbeiten – Schnitt.

Mit der vierten Einstellung die mich wieder in lässigen Klamotten, einer Basecap und meiner Gitarre auf dem Sofa zeigt, beende ich meinen Tagtraum und stehe auf. Ich absolviere meine Morning Routine, hole meine Basecap aus dem Schrank und setze mich, natürlich mit Gitarre, auf´s Sofa.

Jetzt bin ich angefixt

In einem blauen Notizbuch habe ich neben Akkorde-Notationen zu Melodie-Ideen die ich per Video aufgenommen habe, noch lose Blätter mit unfertigen Texten die ich vor ein paar Wochen aus einem anderen Notizbuch herausgerissen habe. Ich wollte versuchen diese Textstreifen für fertige Melodien zu verwenden.

Strophe
Wo es viel geregnet hat, da fällt im Winter kein Schnee.
Wo ich mich verbogen hab, da tut´s mir heut noch weh.

Chorus
Nimm das Wort das den Tag betrügt, es wird niemals laut.
Nimm das Wort das die Nacht belügt, ich hab ihm nie vertraut.

Die Strophe läuft auf den Akkorden G und Am und über dem Chorus habe ich die Akkorde Hm, Am, G und wieder Am notiert. Ich spiele die Akkorde und finde zu den Textzeilen, die sich total schön singen lassen, eine eingängige Melodie. Jetzt bin ich angefixt und beginne an dem Text zu arbeiten.

Die nächsten zwei Zeilen zur Vervollständigung der ersten Strophe sind schnell gefunden und auch die ersten Ideen für die zweite Strophe stehen schnell auf dem Papier. Bei der dritten Strophe bricht mein kreativer Output ab. Ich nehme die Gitarre und spiele das bisher geschriebene. Nach dem Chorus könnte ein Gitarrensolo kommen. Ich stell mir das bereits in Gedanken vor und während noch das imaginäre Solo in meinem Kopf läuft singe ich ein Ahum und wiederhole es noch einmal nach dem Akkordwechsel.

Das klingt nach guter Laune. Aber irgendwie kommt mir das auch sehr bekannt vor und ich überlege an was mich dieses Ahum erinnert, das ich gerade spontan gesungen habe.

Dahuda… dahuda… da ist es… Monotonie, ein Song aus den 80ern von der Band Ideal! Das Album Der Ernst des Lebens auf dem der Song zu finden ist, habe ich geliebt. Schon deshalb weil es keine Songs wie Hohe Berge, Sternenhimmel, Tretboot in Seenot oder schlimmeres enthielt. Und natürlich weil ich Anette Humpe klasse fand. Dennoch waren die 80er für mich ein schlimmes Jahrzehnt weil ich da so gar nicht reingepasst habe.

Ich gönne mir eine Pause und da es bereits nach 12 Uhr ist und mein Magen mir signalisiert dass er etwas zu essen möchte, schaue ich in den Kühlschrank. Es ist alles da für meine Asiatische Gemüsepfanne mit Hühnchen und ich denke mir, da könnte man doch wieder einen kleinen Vlog drehen mit dem Titel: What I eat today.

Erste Einstellung
Hallo Ihr Lieben. Heute seht ihr mich in der Küche und ich zeige euch wie ich mir mein Lieblingsgericht „Asiatische Gemüsepfanne mit Chicken“ zubereite. Zunächst einmal die Zutaten:

2 Möhren
1/2 Zucchini
1 gelbe Paprika
2 Champignons
1 Tomate
2 Hähnchenfilets
1 TL Hoi-Sin Sauce
1/4 Tasse Basmati Reis

Zweite Einstellung
Nachdem wir das Gemüse gewaschen, die Möhren geschält und alles in kleine Rautenstücke geschnitten haben geben wir die Möhren, die Zucchini und den gelben Paprika in die bereits erhitzte Wok-Pfanne. Dazu einen guten Schuss Sonnenblumenöl. Während der Reis vor sich hin köchelt schneiden wir die bereits gebratenen Hähnchenfilets in kleine Stücke. Im Abstand von je drei Minuten geben wir die geviertelten Champignons, die Tomatenwürfel und die Hähnchenfiletstücke in die Wok-Pfanne. Jetzt nur noch ein bis zwei Teelöffel von der Hoi-Sin Sauce dazu und die Gemüsepfanne ist fertig.

Dritte Einstellung
Der Reis wurde mittels einer Kaffeetasse in Kuppelform in der Tellermitte platziert und das Gemüse mit Chicken um die Reiskuppel herum drapiert. Die Kamera zeigt mich mit dem fertigen Gericht und ich wünsche allen Followern einen Guten Appetit.

Ich denke an die Selbstzweifel

Während ich esse summe und singe ich die Bridge nach dem Refrain. Ahum bada di da dum. Ahum bada di da dum. Warum ba da ba ba. Warum … Ich stelle das Essen zur Seite und schnappe mir meine Gitarre

Nimm das Wort das den Tag betrügt, es wird niemals laut.
Nimm das Wort das die Nacht belügt, ich hab ihm nie vertraut.
Warum, …warum, …warum, …warum.

Das ist so genial! Warum….ja, genau….das ist es! Ich sitze da mit meiner Gitarre auf dem Schoß, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen und singe die Bridge in nicht enden wollender Dauerschleife mit immer gewagteren Phrasierungen. Dabei denke ich an die Selbstzweifel der letzten Wochen. Die Angst. Die Fressattacken. Die Panikattacken. Nicht schreiben können. Warum… das war gerade eine so brillante Eingebung… es fühlt sich an als hätte ich den Sieg in einem Match errungen den mir niemand mehr zugetraut hat. Warum?….

(Anfang verpasst?)